Donnerstag, 19. Februar 2009

Neue Rubrik: René in Gefahr

Im Januar hatte ich ja das große Vergnügen, einem Kompaktkurs für Printvolontäre an der Akademie für Publizistik in Hamburg beizuwohnen. Unter anderem stand da auch ein Reportage-Seminar auf dem Programm, geleitet von Stefan Willeke, fleißigen Lesern der Süddeutschen Zeitung sicher ein Begriff. Zum Seminar gehörte auch die Anfertigung einer eigenen Reportage inklusive Recherche. Nachdem sich leider mein Wunschthema, einem "Interkulturellen Training" der amerikanischen Streitkräfte beizuwohnen, aus zeitlichen Gründen zerschlagen hatte, musste ich auf das Not-Thema "Soziales" ausweichen. Weil es mich etwas langweilte, das Thema Obdachlosigkeit zum tausendsten Male durchzukauen, entschloss ich mich zu folgendem Selbstversuch:

Die Furcht vor rumänischen Hunden

Von den Schwierigkeiten, einen Tag obdachlos zu sein

Im Wasser der Binnenalster schwimmt eine Bierflasche aus Kunststoff. Etwa drei Meter vom Ufer entfernt hebt und senkt sie sich gemächlich im leichten Wellengang uns stößt mit dem Hals gegen die dünne Eisdecke. Offenbar ist sie noch zum Teil gefüllt. Ich beobachte sie eine Weile. Das Eis wird mich nicht tragen, die Flasche bleibt unerreichbar. Also gehe ich weiter am Uferweg entlang Richtung Außenalster und durchsuche die Mülleimer. Vor einigen Minuten sind mir einige Männer in Anzügen und Krawatten entgegengekommen und haben darüber diskutiert, wo sie sich ihr Mittagessen besorgen sollen, ich dagegen habe nicht einmal ein Frühstück im Bauch. In meiner Tragetasche befindet sich eine einzige mickrige Bierflasche, die ich in der Nähe der U-Bahn-Station Rödingsmarkt gefunden habe. Der Tatendrang, mit dem ich am Morgen am Altonaer Bahnhof aus dem Zug gestiegen bin, hat sich verflüchtigt. Ein Experiment sollte es sein, 24 Stunden lang auf der Straße, ohne Geld, ohne Proviant, ohne Bleibe. Ich wollte mit anderen Obdachlosen sprechen, nicht als Journalist, sondern als Ihresgleichen. Abends sollte mich dann die Bahnhofsmission in eine Notunterkunft vermitteln. Das könnte, so die Idee, eine andere Ahnung von der Obdachlosigkeit vermitteln als eine reine Beobachtung von Betroffenen. Aber der Hunger hat über die Neugier gesiegt.
In Altona habe ich meine Tour begonnen. Ausgerüstet habe ich mich mit einem alten Rucksack, darin ein Taschenmesser, ein altes T-Shirt und Socken. Ich trage verschlissene Kleidung, die ich für mögliche Wohnungsrenovierungen aufbewahrt habe. Ich habe eine Lust an der Verkleidung gespürt, als ich in der Fußgängerzone die Mülleimer nach Pfandflaschen durchsucht habe. Das Starren der Passanten hat mich amüsiert. Von Altona über St. Pauli bis zur Alster bin ich gegangen. Nun bin ich unterzuckert und schlapp, am Vorabend habe ich zum letzten Mal etwas gegessen. Außerdem friere ich. Auch mein Gehirn hat auf Sparflamme geschaltet. Notizen über meine Wanderung habe ich mir zum letzten Mal gemacht, als ich mich in St. Pauli am Hans-Albers-Platz vor das Denkmal des Schauspielers gesetzt habe. Mit der Schwäche ist zudem ein Gefühl der Scham in mir aufgestiegen. Die Blicke der Menschen sind mir mittlerweile nicht mehr egal, ich blicke mich um, bevor ich im Müll wühle, und wenn jemand in der Nähe ist, lasse ich es sein. Meine Blase drückt, aber einfach an einem Baum meine Notdurft zu verrichten, wage ich auch nicht. Deshalb setze ich meinen Weg fort und komme zum Bahnhof Dammtor. Dort steige ich in einen Zug und gehe auf die Toilette. Auf dem Fußboden liegt eine Euromünze. Vielleicht war es dem Besitzer widerwärtig, die Münze aus der Pfütze zu holen. Ich wasche sie zusammen mit meinen Händen ab. Am Hauptbahnhof steige ich wieder aus. An einem Automaten auf dem Bahnsteig ziehe ich mir einen Becher heiße Tomatensuppe. Ich gehe weiter und suche Flaschen, obwohl dieses Unterfangen bislang so erfolglos war. Aber die Überwindung, stattdessen schnorren zu gehen, ist zu groß.

Als ich, ohne es geplant zu haben, wieder in Altona am Bahnhof stehe, ist es kurz vor vier. Unterwegs habe ich vier Plastikflaschen gefunden, für die ich Pfand kassieren kann. Ich tausche in einem Plus-Markt meine Flaschen gegen Doppelkekse und eine Flasche Wasser. Nur die Bierflasche, die ich zuerst gefunden habe, kann ich dort nicht umtauschen. In einer schäbigen Grünfläche setze ich mich und esse. Auf der Bank neben mir sitzt ein Mann, ungepflegt, dick eingepackt und mit einem großen Rucksack. Ich spreche ihn an. Er würdigt mich kaum eines Blickes und reagiert nur mit Brummen auf meine Fragen. Vielleicht ist er in eine Art Kältestarre verfallen, um Energie zu sparen. Trotzdem erzähle ich eine aus einem Magazin geklaute Geschichte, wie ich auf der Straße und nun in Hamburg gelandet bin. Der Gesichtsausdruck meines Banknachbarn lässt darauf schließen, dass ich ihm gewaltig auf die Nerven gehe. Ich stehe mit der Bemerkung auf, noch etwas schnorren zu gehen und mir dann einen Übernachtungsplatz in einer Notunterkunft zu suchen. Da wird er plötzlich lebendig. Er warnt mich vor den „diebischen rumänischen Hunden“, die dort auch immer übernachten würden. Ich habe von diesen Problemen gelesen. Osteuropäische Tagelöhner übernachten häufig in den Obdachlosenunterkünften, in denen es zudem oft zu Gewalt und Diebstählen kommt. Bei der Planung meines Experiments hatte ich mir dennoch vorgenommen, in einer solchen Einrichtung die Nacht zu verbringen. Aber Hunger und Kälte haben mir jeglichen Schneid abgekauft. Ich überlege nun ernsthaft, die Nacht im Freien zu verbringen, obwohl ich dafür nicht ausgerüstet bin.

Ich drücke mich auf dem Bahnhof herum und versuche, meine Hemmungen zu überwinden und zu betteln. Schließlich schaffe ich es, einige Leute anzuschnorren. Zwei davon geben mir tatsächlich etwas. Ein älterer Herr gibt mir 50 Cents, ein jüngerer leert seinen Geldbeutel aus und gibt mir einen Haufen Kleingeld, hauptsächlich Kupfermünzen. Ich versorge mich wieder an einem Automaten. Dann verlasse ich den Bahnhof. Mir ist schlecht vor Scham. Im Park am Platz der Republik denke ich an die kommende Nacht. Paranoia steigt in mir auf. Ich werde nicht in eine Unterkunft gehen, verberge den Beutel mit der Bierflasche unter der Jacke und schlafe auf der Bank ein. Als ich aufwache, kann ich mich vor Kälte kaum bewegen. Die Nacht hat noch nicht einmal angefangen. Von nun an schlafe ich im Sitzen auf der Bank, wache auf, bewege mich etwas, bis die schlimmste Kälte aus meinen Gliedern verschwunden ist und setze mich wieder. Irgendwann gehe ich zum Bahnhof und sehe, dass in einer halben Stunde ein Zug nach Hause fährt.
Auf der Fahrt frage ich mich, ob ich dem Lebensgefühl eines Obdachlosen wirklich näher gekommen bin. Es war wohl eher ein Selbsterfahrungstrip in Sachen Hunger.
Als ich aus dem Zug steige, zieht es mich unwillkürlich zum nächsten Mülleimer. Noch immer trage ich die Bierflasche mit mir herum. Ich werde angeschnorrt und gebe dem Mann meine letzten 23 Cent in Kupfer.

Mittwoch, 30. April 2008

Herrschaft des Intellekts

Folgender Leser macht sich für eine Änderung des Wahlrechts stark, die sich nicht in der Tilgung von Prozenthürden erschöpft:

"Eine Änderung des Wahlrechts war schon oft in der Diskussion. Unter einer SPD-Regierung wurde das Wahlalter von 21 auf 18 heruntergesetzt, wohl wissend, dass junge Menschen mehr zur SPD als zur CDU tendieren.
Es ist erstaunlich, dass eine Wahlrechtsänderung nie diskutiert wird, nämlich ein Wahlrecht, das sich am IQ, also am Intelligenzquotienten des Wählers orientiert. Das hätte zur Folge, dass alle Dumpfbacken zu Hause bleiben könnten. Der IQ ließe sich recht einfach am Ausbildungsstand festmachen, in Zweifelsfällen könnte eine Nachprüfung eingeschoben werden.
Dem Demokratiegedanken würde das keinen Abbruch tun. Denn sehr viele Leute mit Wahlrecht, vor allem die aus den sogenannten "bildungsfernen Schichten", gehen überhaupt nicht zur Wahl. Und damit wären wir wieder beim IQ.
J.S. aus Braubach.

Wo liegt das Problem? Wenn die "Dumpfbacken", wie Sie sie nennen, ohnehin in großer Zahl nicht zur Wahl gehen, können sie ja auch keinen nennenswerten Einfluss auf Wahlergebnisse haben, oder?
Ihr Vorschlag tut dem Demokratiegedanken durchaus einigen Abbruch. Die Erfinder der Demokratie hatten ein ähnliches Verständnis der "Volksherrschaft" wie sie, dort war nur die Oberschicht zur Wahl zugelassen. Aber die Herrschaft des Volkes schließt nun einmal das gesamte Volk ein, auch die intellektuell weniger Begabten. Pardon, aber aus Ihrem Leserbrief spricht eine widerliche, elitäre und menschenverachtende Haltung. Eine Gesellschaft, wie sie Aldous Huxley in "Schöne neue Welt" beschreibt, wäre Ihnen angenehm, weil Sie sich zu den Alphas zählen. Ich halte es mit Forrest Gump und sage: Dumm ist der, der Dummes tut. Und Ihr Brief ist leider dumm.
Denn sie gehen davon aus, dass sich der Grad der Intelligenz ganz einfach am Bildungsstand ablesen ließe. Das bedeutet konkret? Abitur? Ist denn jeder Abiturient intelligenter als ein Handwerksgeselle? Oder als jemand, der seiner zerrütteten Familie entflieht, die Schule abbricht und sich fortan durchs Leben schlägt? Oder reicht es, Realschulabschluss zu haben, also wo setzen wir die Grenze?
Bleibt nur noch der vorgeschlagene Test, den Sie für Zweifelfälle vorschlagen, der aber aus Gründen der Vergleichbarkeit von jedem Wahlwilligen absolviert werden müsste. Wo fängt Intelligenz an? Und ist für das Zusammenleben der EQ, sprich die emotionale Intelligenz, nicht wichtiger? Wie viele schlaue Menschen denken nur an sich und nicht an die Allgemeinheit? Bei einer Prüfung, die den EQ berücksichtigt, würden Sie vermutlich durchfallen. Und dann bekommen Sie eine Urkunde, "Staatlich geprüfter Dummkopf". Herzlichen Glückwunsch. Bitte erschüttern Sie durch Ihre Dummheiten nicht die Grundfesten der Demokratie und bleiben Sie bei der nächsten Wahl zu Hause. Sie haben genug Torheiten begangen.

Samstag, 11. November 2006

Retter der Muttersprache

Herr S. aus K. fühlte sich nach der Lektüre der Bücher eines gewissen Herrn Sick derart inspiriert, dass er angesichts eines Fernsehberichts über das Thema Arbeitsplätze, dessen Wortwahl ihm missfiel, den unwiderstehlichen Drang verspürte, seinem Unmut darüber Luft zu verschaffen:
„Wer sich heute der Lektüre von Zeitungen, Zeitschriften und moderner Literatur widmen will, ist gut beraten, sich ein Taschenwörterbuch in greifbare Nähe zu legen. Es ermöglicht doch demjenigen, der des Englischen nicht mächtig ist, die wichtigsten Ausdrücke aus aktuellen Fachgebieten zu verstehen. Leider fließen aber immer mehr Amerikanismen in unsere Sprache ein und werden im täglichen Sprachgebrauch mit steigender Tendenz benutzt. Die „Sprache der Dichter und Denker“ ist so längst völlig überfremdet.
Da ist etwa nur noch von „Jobs“ die Rede und nicht mehr von Arbeit. Doch wen wundert es, wenn sich die Bundesagentur für Arbeit selbst amtlich so äußert? Unsere Amtssprache ist doch Deutsch! Wer nicht altmodisch erscheinen will, schreibt oder spricht leichthin von „Kids“, ist also „in“ oder aber auch „out“, was seine Muttersprache betrifft. Nicht unerwähnt sollen aber noch die wachsenden umgangssprachlichen Albernheiten bleiben. Zu denen zähle ich die Begrüßung zu jeder Tageszeit mit „Hallo“, als ob wir nicht für jedes Tagesdrittel in Deutsch eine gute Zeit zu wünschen imstande wären.“

Hallo Herr S.,
ich wähle diese von Ihnen ungeliebte Begrüßung, weil ich den Beitrag gern von zeitlichen Einordnungen freihalten würde.
Zunächst einmal möchte ich Ihnen die Hände schütteln für Ihren tapferen Einsatz für den Erhalt der deutschen Sprache. Dieses Unternehmen kann ich nur unterstützen, auch wenn es in Ihrem Fall nicht gerade über das Ziel hinausschießt sondern es einfach meilenweit verfehlt. Oder kilometerweit, schließlich sprechen wir hierzulande nicht nur deutsch, sondern benutzen auch das metrische System. Ich möchte da ungern in ein Fettnäpfchen treten.
Es kann wohl nicht schaden, zu bemerken, dass das, was wir gemeinhin als deutsche Sprache bezeichnen, eine jahrhundertelange Entwicklung durchgemacht hat. Dazu gehörte es immer, dass Worte aus anderen Sprachen integriert wurden, für die es keine sinnvolle deutsche Entsprechung gab. „Aktuell“ zum Beispiel, das verwenden Sie ja auch, nicht wahr? Es ist in der Tat zur Mode geworden, englische Worte, in Reinform oder abgewandelt, zu benutzen, obwohl es dafür sehr wohl auch eine deutsche Vokabel gäbe. Das nennt man, ganz nebenbei, Anglizismen. Amerikanismen gibt es auch, aber das sind dann Anglizismen, die typisch amerikanische Prägung aufweisen. Häufig ist dies überflüssig und nervig, vor allem immer dann, wenn der Gebrauch dieser Worte dazu dienen soll, das Bezeichnete als besonders modisch zu kennzeichnen. Aber die Beispiele, die sie nennen, berühren den Bereich der Sprachökonomie. „Jobs“ ist schneller gesprochen als „Arbeitsplätze“ (und nicht nur „Arbeit“, wie sie schreiben) und daher praktisch und nicht zu beklagen. Kinder als „Kids“ zu bezeichnen, ist meistens überflüssig und dient in der Regel dazu, dem Sprecher einen besonders schmissigen Ton zu verleihen. Aber es gilt zu beachten, dass mit diesem Anglizismus noch andere Implikationen verbunden sind. Kinder sind alle im entsprechenden Alter, aber „Kids“ sind die großmäuligen Furzknoten, die Basecaps, pardon, Schirmmützen, auf dem Kopf tragen, um das mal sehr verkürzt auszudrücken. Und dafür wiederum gibt es kein passendes deutsches Wort.
Die angebliche umgangssprachliche Albernheit, „Hallo“ zu sagen statt „Guten Tag“ oder ähnliches, ist nicht so sinnfrei wie Sie vielleicht glauben. Es ist eine informelle, tageszeitunabhängige Begrüßung, an der ich nichts Schlechtes zu finden vermag. Und warum verwenden sie eigentlich die Formulierung „eine gute Zeit wünschen“? Immerhin ist das ein eingedeutschtes englisches Idiom (jaja, feststehende Redewendung). Bemerke ich da eine Inkonsequenz oder hat die Sprachüberfremdung Sie bereits korrumpiert? Vielen herzlichen Dank, dass sie die wundervolle, unproblematische Vokabel „Überfremdung“ benutzen! Ich hoffe sehr, das lässt nicht auf Ihre Geisteshaltung in anderen gesellschaftlichen Bereichen schließen.
Und machen Sie sich eigentlich wirklich Sorgen darum, dass man Sie für altmodisch halten könnte aufgrund ihrer Wortwahl, die einem 14jährigen nicht passen würde? Ich glaube eher, Sie fühlen sich alt, die Neuentwicklungen in der Sprache lassen Sie das spüren und das ärgert Sie. So sehr am Herzen liegen kann Ihnen ihre Muttersprache nicht, denn davon haben Sie ja wohl nicht besonders viel Ahnung.

Sonntag, 29. Oktober 2006

Abseits!

„Eigentlich wundere ich mich und ärgere ich mich schon lange über den Zirkus mit dem Abseits. So auch im Länderspiel gegen Georgien, als zwei Tore der Georgier nicht anerkannt wurden. Mich interessiert aber nicht, ob es Abseits war oder nicht. Tor ist Tor, und beide Seiten haben gleiche Chancen. Die Linienrichter sind überfordert, während der TV-Zuschauer direkt von allen Seiten sieht, dass 50 Prozent der der Abseits-Entscheidungen eindeutig falsch und weitere 25 Prozent fragwürdig sind.
Allein der Schiedsrichter, der in diesem Fall gar keiner ist, entscheidet auf Zuruf des Assistenten oder der Spieler. Ein Hoch dem Mann oder der Frau, der/die diesen Unsinn mit der Abseitsregel beseitigt. Es muss eine starke Lobby für diesen Unsinn geben. Lasst doch den Fußball rollen. Mehr Tore sind gut für alle Beteiligten und für den Fußball.
Meiner Meinung nach wäre die Streichung der Abseitsregel ein Gewinn und bedenkenswert.“
W. N. aus S.

Sollte dem geneigten Leser die Abseitsregel des Fußballspiels nicht oder nur rudimentär bekannt sein, erkundige dieser sich bitte auf der Internetseite Abseitsregel.de. Für derlei Erklärungen fehlt mir gerade die Geduld, zudem scheint mir der Erfolg einer solchen Anstrengung zu ungewiss. Auf dieser Seite erfährt man neben der genauen Ausprägung dieser Regel auch, dass die erste Form eben jener aus dem Jahre 1863 (!) stammt, einem Jahr, in dem im Amerikanischen Bürgerkrieg noch mit einschüssigen Vorderladern gekämpft wurde und noch keine Kameras zur Verfügung standen, um die Richtigkeit der Schiedsrichterentscheidungen zu überprüfen. Man sollte meinen, dass eine Regel, die eine solche Lebensdauer hat, nicht der Rechtfertigung entbehrt. Doch die menschliche Dummheit ist ja bekanntlich grenzenlos, deshalb soll das hier nicht als Argument gelten.
Ja Herrschaftszeiten! Ohne Abseitsregel mehr Tore? Es stimmt schon, dass viele Entscheidungen diese Regel betreffend falsch sind, auch wenn ich Ihre geschätzten Größenordnungen bestreiten würde. Aber es ja nun nicht so, dass jede falsche Entscheidung ein Tor verhindert, es werden ja auch Tore anerkannt, die aus einer Abseitsposition heraus erzielt wurden. Inwiefern sich fälschlicherweise an- und aberkannte Tore nun aufwiegen, ist sicher in einer Statistik nachzulesen, irgendwer hat sich darüber bestimmt schon Gedanken gemacht. Aber führt ein Abschaffen der Abseitsregel zu mehr Toren? Ich glaube kaum. Vielmehr wird es lange Pässe in den gegnerischen Strafraum geben und ein Getrete nach dem Ball, bis er entweder im Tor landet oder aus der Gefahrenzone bugsiert wird. Zu mehr Toren wird das nicht führen, nur zu einem steinzeitlich anmutenden Gekicke (wobei man sagen muss: die Engländer schaffen das mit den langen Bällen auch so, die Regel stört sie dabei überhaupt nicht). Zudem ist zu bedenken, wie viel Tore fallen, die ohne Abseitsregel nicht gefallen wären – wie oft versagt die Abseitsfalle einer Mannschaft? Wie oft lässt eine genialer und wunderbar anzuschauender Pass eine Viererkette alt aussehen? Wie oft bewundern wir technisch versierte Spieler, die ihre Gegner auf einem Bierdeckel austanzen? Die Gelegenheit dazu gäbe es kaum noch, weil jeder Spieler überall auf dem Platz herumlaufen könnte und es daher kaum noch enge Räume gäbe – außer im Strafraum, wo es dann allerdings so eng zugehen würde, dass einem auch die Technik nicht weiterhilft. Und überhaupt: worüber rege ich mich dann auf die ganze Woche auf, wenn nicht über strittige Abseitsentscheidungen? Wie verbringe ich langweilige Parties, wenn ich nicht einer unwissenden Dame den ganzen Abend lang die Abseitsregel erklären kann?
Aber wie dem auch sei, ihr Protest ist sinnlos: sie haben Recht, gegen die Abseits-Lobby ist einfach kein Kraut gewachsen. Sie sollten aufpassen, dass diese mafiöse Bande sie nicht als Bedrohung empfindet und sie eines Tages einen abgeschnittenen Pferdekopf in ihrem Bett finden. Hinter dieser Lobby stehen mächtige Leute und unglaublich viel Geld, um das diese Gangster fürchten müssten, würde die Abseitsregel abgeschafft. Das würden sie nicht zulassen, oder aber es würden Köpfe rollen. Wir hätten keine Chance.

Theaterskandal

Folgendes Kleinod aus der Kategorie „idiotischer Leserbrief“ ist mir letztens untergekommen:

„Mach dir einen schönen Abend und geh ins Staatstheater Mainz, dachte ich mir. Ich war drin. Aufgeführt wurde „Clavigo“, ein Trauerspiel von J.W. von Goethe. Gesehen habe ich jedoch ein vorwiegend lustiges Trauerspiel mit Gesang- und Tanzeinlagen und Tingeltangel. Ich hatte das Gefühl, die Inszenierung erfolgte unter dem heute weit verbreiteten Motto: „Jetzt wollen wir mal dieses blöde, spießige Publikum schockieren.“ Von Goethe ist Gott sei Dank der Anblick dieses Trauerspiels, das etwa 90 Minuten dauerte, erspart geblieben. Eine Pause gab es nicht. Man befürchtete wohl, viele Besucher und Trauergäste würden nicht mehr auf ihre Plätze zurückkehren. Fast alle verharrten jedoch brav auf ihren Sitzen. Protest in Mainz? Fehlanzeige. Man nimmt alles regungslos hin wie es kommt und wie man es bereits von der Politik her gewohnt ist. Ich habe das Geld nicht ganz abgesessen, denn ich hatte nach einiger Zeit genug von diesem Trauerspiel.
Da diese sehr moderne Art der Inszenierung in Mainz kein Einzelfall war (Beispiel: Hänsel und Gretel) und bleiben wird, rate ich der Stadt Mainz und auch dem Land die jährlichen aus Steuergeldern stammenden Zuschüsse von je ca. 12,5 Millionen Euro drastisch zu kürzen und das freiwerdende Geld zur Schuldentilgung und/oder für Kinder und Bildung zu verwenden. Wer das moderne Regietheater und Aufführungen á la Clavigo liebt, dem kann man zumuten, in Zukunft wesentlich höhere Eintrittspreise, die nur noch gering subventioniert werden, zu bezahlen. Mein Bedarf an Schauspielen in Mainz ist für längere Zeit gedeckt.“
K. S. aus M.

Mein lieber Herr S.! Es ist immer wieder erstaunlich, mit welcher Selbstsicherheit gewisse Positionen in der Öffentlichkeit vertreten werden, die dazu geeignet sind, einem die Haare zu Berge stehen zu lassen.
Sie haben also den Eindruck, dass mit der von Ihnen angesprochenen Inszenierung ein spießiges Publikum schockiert werden sollte. Da Sie offenbar schockiert oder doch zumindest provoziert wurden, haben Sie wohl kein Problem damit, wenn ich sie zu diesem spießigen Publikum hinzuzähle, also jener Gruppe Theaterbesucher, denen es missfällt, wenn ein Stück Shakespeares nicht in historischen Kostümen aufgeführt wird. Das ist interessant. Waren doch Stücke unserer heutigen Klassiker häufig ein Skandal bei ihrer Uraufführung. Schon dort hat sich also ein spießiges Publikum darüber echauffiert, über Inszenierungen, die Sie, werter Herr S., heute wohl gutheißen würden. Lassen Sie mich eines klar ausdrücken: es spricht überhaupt nichts dagegen, dass einem ein Theaterstück nicht gefällt. Ich selbst bin weder ein intimer Kenner noch ein ausgesprochener Liebhaber des Theaters, und mir gefallen die meisten der Stücke nicht, die ich zu sehen bekomme. Aber Kritik braucht auch immer eine Basis, die über den persönlichen Geschmack hinausgeht – Missfallen ist nicht gleich Mangel an Qualität. Vielleicht ist es ja so, dass das Publikum nicht deshalb sitzen geblieben ist, weil es so brav und duckmäuserisch ist, sondern weil ihm das Stück zu einem gewissen Maße gefallen hat. Oder es hat sie anderweitig interessiert. Sie scheinen zu vergessen, dass Kunst nicht in erster Linie dazu da ist, eine angenehme Zeit zu bereiten. Sie soll uns doch auch über unser Leben, unsere Situation unterrichten, und das geht nun einmal nicht immer Hand in Hand mit ästhetischem Genuss. Und wenn ein Regisseur in Goethes Trauerspiel etwas entdeckt, das er für unser heutiges Leben für relevant hält, versucht er es dementsprechend zu inszenieren, dass wir als Zuschauer auch darauf kommen, was er für relevant hält. Glotzen und Genießen funktioniert da eben nicht.
Toll auch Ihr Vorschlag, die Theatersubventionen zu kürzen. Ich nehme an, ich hätte den gleichen Gedanken, wenn ich einer Aufführung beiwohnen würde, die Ihnen gefällt. Aber wessen Geschmack setzen wir dann an erster Stelle?
Zudem rate ich zu einem bewussteren Umgang mit dem Adjektiv „modern“. Gerade was Dinge der Kunst betrifft, bewegt man sich da auf dünnem Eis. Da wäre postmodern vielleicht treffender. Aber wahrscheinlich wollen Sie nur eine Art des Umgangs mit Schauspielen beschreiben, der schlicht und ergreifend zeitgemäß ist.

Samstag, 28. Oktober 2006

Auslöser

Man braucht ja für alles einen Grund. Oder besser gesagt, für alle unsere Handlungen gibt es einen Grund. Manchmal bleibt dieser einem verborgen, manchmal spekuliert man darüber. Das ist hier nicht der Fall. Es gibt ihn, den Auslöser, der mich dazu gebracht hat, mich der endlos scheinenden Reihe der Blogger zuzugesellen. Um das Bedürfnis zu stillen, sich ausgiebig mit Äußerungen zu befassen, die einem sauer aufgestoßen sind und weil gerade niemand da ist, der einem bereitwillig sein Ohr leiht für weitere unmaßgebliche Meinungen. Leserbriefe bewahren oft in bewundernswerter Weise einen affektiven Charakter. Und neigen häufig zu fürchterlich einseitigen und unreflektierten Aussagen. Solche Briefe an den Herausgeber sind der Grund für die hier versammelten Einlassungen. Aber es gibt durchaus genug Gelegenheit, sich darüber hinaus mit Themen und Tendenzen auseinanderzusetzen, wofür an anderer Stelle nicht genug Gelegenheit geboten scheint. Und die potentielle Möglichkeit, dass jemand davon Notiz nimmt, verursacht ein gutes Gefühl.

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Advocaat - 19. Feb, 19:47
Wow...
...du hattest ja dieses Jahr mal deinen Blog wiederbelebt...
Jukie - 17. Jul, 09:06
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Advocaat - 30. Apr, 18:06
Retter der Muttersprache
Herr S. aus K. fühlte sich nach der Lektüre der Bücher...
Advocaat - 11. Nov, 01:28
Juhuh!
Advocaats Nörgel-Blog :-) Das wurde aber auch Zeit....
Jukie - 30. Okt, 09:25

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Zuletzt aktualisiert: 19. Feb, 19:47

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