Sonntag, 29. Oktober 2006

Abseits!

„Eigentlich wundere ich mich und ärgere ich mich schon lange über den Zirkus mit dem Abseits. So auch im Länderspiel gegen Georgien, als zwei Tore der Georgier nicht anerkannt wurden. Mich interessiert aber nicht, ob es Abseits war oder nicht. Tor ist Tor, und beide Seiten haben gleiche Chancen. Die Linienrichter sind überfordert, während der TV-Zuschauer direkt von allen Seiten sieht, dass 50 Prozent der der Abseits-Entscheidungen eindeutig falsch und weitere 25 Prozent fragwürdig sind.
Allein der Schiedsrichter, der in diesem Fall gar keiner ist, entscheidet auf Zuruf des Assistenten oder der Spieler. Ein Hoch dem Mann oder der Frau, der/die diesen Unsinn mit der Abseitsregel beseitigt. Es muss eine starke Lobby für diesen Unsinn geben. Lasst doch den Fußball rollen. Mehr Tore sind gut für alle Beteiligten und für den Fußball.
Meiner Meinung nach wäre die Streichung der Abseitsregel ein Gewinn und bedenkenswert.“
W. N. aus S.

Sollte dem geneigten Leser die Abseitsregel des Fußballspiels nicht oder nur rudimentär bekannt sein, erkundige dieser sich bitte auf der Internetseite Abseitsregel.de. Für derlei Erklärungen fehlt mir gerade die Geduld, zudem scheint mir der Erfolg einer solchen Anstrengung zu ungewiss. Auf dieser Seite erfährt man neben der genauen Ausprägung dieser Regel auch, dass die erste Form eben jener aus dem Jahre 1863 (!) stammt, einem Jahr, in dem im Amerikanischen Bürgerkrieg noch mit einschüssigen Vorderladern gekämpft wurde und noch keine Kameras zur Verfügung standen, um die Richtigkeit der Schiedsrichterentscheidungen zu überprüfen. Man sollte meinen, dass eine Regel, die eine solche Lebensdauer hat, nicht der Rechtfertigung entbehrt. Doch die menschliche Dummheit ist ja bekanntlich grenzenlos, deshalb soll das hier nicht als Argument gelten.
Ja Herrschaftszeiten! Ohne Abseitsregel mehr Tore? Es stimmt schon, dass viele Entscheidungen diese Regel betreffend falsch sind, auch wenn ich Ihre geschätzten Größenordnungen bestreiten würde. Aber es ja nun nicht so, dass jede falsche Entscheidung ein Tor verhindert, es werden ja auch Tore anerkannt, die aus einer Abseitsposition heraus erzielt wurden. Inwiefern sich fälschlicherweise an- und aberkannte Tore nun aufwiegen, ist sicher in einer Statistik nachzulesen, irgendwer hat sich darüber bestimmt schon Gedanken gemacht. Aber führt ein Abschaffen der Abseitsregel zu mehr Toren? Ich glaube kaum. Vielmehr wird es lange Pässe in den gegnerischen Strafraum geben und ein Getrete nach dem Ball, bis er entweder im Tor landet oder aus der Gefahrenzone bugsiert wird. Zu mehr Toren wird das nicht führen, nur zu einem steinzeitlich anmutenden Gekicke (wobei man sagen muss: die Engländer schaffen das mit den langen Bällen auch so, die Regel stört sie dabei überhaupt nicht). Zudem ist zu bedenken, wie viel Tore fallen, die ohne Abseitsregel nicht gefallen wären – wie oft versagt die Abseitsfalle einer Mannschaft? Wie oft lässt eine genialer und wunderbar anzuschauender Pass eine Viererkette alt aussehen? Wie oft bewundern wir technisch versierte Spieler, die ihre Gegner auf einem Bierdeckel austanzen? Die Gelegenheit dazu gäbe es kaum noch, weil jeder Spieler überall auf dem Platz herumlaufen könnte und es daher kaum noch enge Räume gäbe – außer im Strafraum, wo es dann allerdings so eng zugehen würde, dass einem auch die Technik nicht weiterhilft. Und überhaupt: worüber rege ich mich dann auf die ganze Woche auf, wenn nicht über strittige Abseitsentscheidungen? Wie verbringe ich langweilige Parties, wenn ich nicht einer unwissenden Dame den ganzen Abend lang die Abseitsregel erklären kann?
Aber wie dem auch sei, ihr Protest ist sinnlos: sie haben Recht, gegen die Abseits-Lobby ist einfach kein Kraut gewachsen. Sie sollten aufpassen, dass diese mafiöse Bande sie nicht als Bedrohung empfindet und sie eines Tages einen abgeschnittenen Pferdekopf in ihrem Bett finden. Hinter dieser Lobby stehen mächtige Leute und unglaublich viel Geld, um das diese Gangster fürchten müssten, würde die Abseitsregel abgeschafft. Das würden sie nicht zulassen, oder aber es würden Köpfe rollen. Wir hätten keine Chance.

Theaterskandal

Folgendes Kleinod aus der Kategorie „idiotischer Leserbrief“ ist mir letztens untergekommen:

„Mach dir einen schönen Abend und geh ins Staatstheater Mainz, dachte ich mir. Ich war drin. Aufgeführt wurde „Clavigo“, ein Trauerspiel von J.W. von Goethe. Gesehen habe ich jedoch ein vorwiegend lustiges Trauerspiel mit Gesang- und Tanzeinlagen und Tingeltangel. Ich hatte das Gefühl, die Inszenierung erfolgte unter dem heute weit verbreiteten Motto: „Jetzt wollen wir mal dieses blöde, spießige Publikum schockieren.“ Von Goethe ist Gott sei Dank der Anblick dieses Trauerspiels, das etwa 90 Minuten dauerte, erspart geblieben. Eine Pause gab es nicht. Man befürchtete wohl, viele Besucher und Trauergäste würden nicht mehr auf ihre Plätze zurückkehren. Fast alle verharrten jedoch brav auf ihren Sitzen. Protest in Mainz? Fehlanzeige. Man nimmt alles regungslos hin wie es kommt und wie man es bereits von der Politik her gewohnt ist. Ich habe das Geld nicht ganz abgesessen, denn ich hatte nach einiger Zeit genug von diesem Trauerspiel.
Da diese sehr moderne Art der Inszenierung in Mainz kein Einzelfall war (Beispiel: Hänsel und Gretel) und bleiben wird, rate ich der Stadt Mainz und auch dem Land die jährlichen aus Steuergeldern stammenden Zuschüsse von je ca. 12,5 Millionen Euro drastisch zu kürzen und das freiwerdende Geld zur Schuldentilgung und/oder für Kinder und Bildung zu verwenden. Wer das moderne Regietheater und Aufführungen á la Clavigo liebt, dem kann man zumuten, in Zukunft wesentlich höhere Eintrittspreise, die nur noch gering subventioniert werden, zu bezahlen. Mein Bedarf an Schauspielen in Mainz ist für längere Zeit gedeckt.“
K. S. aus M.

Mein lieber Herr S.! Es ist immer wieder erstaunlich, mit welcher Selbstsicherheit gewisse Positionen in der Öffentlichkeit vertreten werden, die dazu geeignet sind, einem die Haare zu Berge stehen zu lassen.
Sie haben also den Eindruck, dass mit der von Ihnen angesprochenen Inszenierung ein spießiges Publikum schockiert werden sollte. Da Sie offenbar schockiert oder doch zumindest provoziert wurden, haben Sie wohl kein Problem damit, wenn ich sie zu diesem spießigen Publikum hinzuzähle, also jener Gruppe Theaterbesucher, denen es missfällt, wenn ein Stück Shakespeares nicht in historischen Kostümen aufgeführt wird. Das ist interessant. Waren doch Stücke unserer heutigen Klassiker häufig ein Skandal bei ihrer Uraufführung. Schon dort hat sich also ein spießiges Publikum darüber echauffiert, über Inszenierungen, die Sie, werter Herr S., heute wohl gutheißen würden. Lassen Sie mich eines klar ausdrücken: es spricht überhaupt nichts dagegen, dass einem ein Theaterstück nicht gefällt. Ich selbst bin weder ein intimer Kenner noch ein ausgesprochener Liebhaber des Theaters, und mir gefallen die meisten der Stücke nicht, die ich zu sehen bekomme. Aber Kritik braucht auch immer eine Basis, die über den persönlichen Geschmack hinausgeht – Missfallen ist nicht gleich Mangel an Qualität. Vielleicht ist es ja so, dass das Publikum nicht deshalb sitzen geblieben ist, weil es so brav und duckmäuserisch ist, sondern weil ihm das Stück zu einem gewissen Maße gefallen hat. Oder es hat sie anderweitig interessiert. Sie scheinen zu vergessen, dass Kunst nicht in erster Linie dazu da ist, eine angenehme Zeit zu bereiten. Sie soll uns doch auch über unser Leben, unsere Situation unterrichten, und das geht nun einmal nicht immer Hand in Hand mit ästhetischem Genuss. Und wenn ein Regisseur in Goethes Trauerspiel etwas entdeckt, das er für unser heutiges Leben für relevant hält, versucht er es dementsprechend zu inszenieren, dass wir als Zuschauer auch darauf kommen, was er für relevant hält. Glotzen und Genießen funktioniert da eben nicht.
Toll auch Ihr Vorschlag, die Theatersubventionen zu kürzen. Ich nehme an, ich hätte den gleichen Gedanken, wenn ich einer Aufführung beiwohnen würde, die Ihnen gefällt. Aber wessen Geschmack setzen wir dann an erster Stelle?
Zudem rate ich zu einem bewussteren Umgang mit dem Adjektiv „modern“. Gerade was Dinge der Kunst betrifft, bewegt man sich da auf dünnem Eis. Da wäre postmodern vielleicht treffender. Aber wahrscheinlich wollen Sie nur eine Art des Umgangs mit Schauspielen beschreiben, der schlicht und ergreifend zeitgemäß ist.

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