Theaterskandal

Folgendes Kleinod aus der Kategorie „idiotischer Leserbrief“ ist mir letztens untergekommen:

„Mach dir einen schönen Abend und geh ins Staatstheater Mainz, dachte ich mir. Ich war drin. Aufgeführt wurde „Clavigo“, ein Trauerspiel von J.W. von Goethe. Gesehen habe ich jedoch ein vorwiegend lustiges Trauerspiel mit Gesang- und Tanzeinlagen und Tingeltangel. Ich hatte das Gefühl, die Inszenierung erfolgte unter dem heute weit verbreiteten Motto: „Jetzt wollen wir mal dieses blöde, spießige Publikum schockieren.“ Von Goethe ist Gott sei Dank der Anblick dieses Trauerspiels, das etwa 90 Minuten dauerte, erspart geblieben. Eine Pause gab es nicht. Man befürchtete wohl, viele Besucher und Trauergäste würden nicht mehr auf ihre Plätze zurückkehren. Fast alle verharrten jedoch brav auf ihren Sitzen. Protest in Mainz? Fehlanzeige. Man nimmt alles regungslos hin wie es kommt und wie man es bereits von der Politik her gewohnt ist. Ich habe das Geld nicht ganz abgesessen, denn ich hatte nach einiger Zeit genug von diesem Trauerspiel.
Da diese sehr moderne Art der Inszenierung in Mainz kein Einzelfall war (Beispiel: Hänsel und Gretel) und bleiben wird, rate ich der Stadt Mainz und auch dem Land die jährlichen aus Steuergeldern stammenden Zuschüsse von je ca. 12,5 Millionen Euro drastisch zu kürzen und das freiwerdende Geld zur Schuldentilgung und/oder für Kinder und Bildung zu verwenden. Wer das moderne Regietheater und Aufführungen á la Clavigo liebt, dem kann man zumuten, in Zukunft wesentlich höhere Eintrittspreise, die nur noch gering subventioniert werden, zu bezahlen. Mein Bedarf an Schauspielen in Mainz ist für längere Zeit gedeckt.“
K. S. aus M.

Mein lieber Herr S.! Es ist immer wieder erstaunlich, mit welcher Selbstsicherheit gewisse Positionen in der Öffentlichkeit vertreten werden, die dazu geeignet sind, einem die Haare zu Berge stehen zu lassen.
Sie haben also den Eindruck, dass mit der von Ihnen angesprochenen Inszenierung ein spießiges Publikum schockiert werden sollte. Da Sie offenbar schockiert oder doch zumindest provoziert wurden, haben Sie wohl kein Problem damit, wenn ich sie zu diesem spießigen Publikum hinzuzähle, also jener Gruppe Theaterbesucher, denen es missfällt, wenn ein Stück Shakespeares nicht in historischen Kostümen aufgeführt wird. Das ist interessant. Waren doch Stücke unserer heutigen Klassiker häufig ein Skandal bei ihrer Uraufführung. Schon dort hat sich also ein spießiges Publikum darüber echauffiert, über Inszenierungen, die Sie, werter Herr S., heute wohl gutheißen würden. Lassen Sie mich eines klar ausdrücken: es spricht überhaupt nichts dagegen, dass einem ein Theaterstück nicht gefällt. Ich selbst bin weder ein intimer Kenner noch ein ausgesprochener Liebhaber des Theaters, und mir gefallen die meisten der Stücke nicht, die ich zu sehen bekomme. Aber Kritik braucht auch immer eine Basis, die über den persönlichen Geschmack hinausgeht – Missfallen ist nicht gleich Mangel an Qualität. Vielleicht ist es ja so, dass das Publikum nicht deshalb sitzen geblieben ist, weil es so brav und duckmäuserisch ist, sondern weil ihm das Stück zu einem gewissen Maße gefallen hat. Oder es hat sie anderweitig interessiert. Sie scheinen zu vergessen, dass Kunst nicht in erster Linie dazu da ist, eine angenehme Zeit zu bereiten. Sie soll uns doch auch über unser Leben, unsere Situation unterrichten, und das geht nun einmal nicht immer Hand in Hand mit ästhetischem Genuss. Und wenn ein Regisseur in Goethes Trauerspiel etwas entdeckt, das er für unser heutiges Leben für relevant hält, versucht er es dementsprechend zu inszenieren, dass wir als Zuschauer auch darauf kommen, was er für relevant hält. Glotzen und Genießen funktioniert da eben nicht.
Toll auch Ihr Vorschlag, die Theatersubventionen zu kürzen. Ich nehme an, ich hätte den gleichen Gedanken, wenn ich einer Aufführung beiwohnen würde, die Ihnen gefällt. Aber wessen Geschmack setzen wir dann an erster Stelle?
Zudem rate ich zu einem bewussteren Umgang mit dem Adjektiv „modern“. Gerade was Dinge der Kunst betrifft, bewegt man sich da auf dünnem Eis. Da wäre postmodern vielleicht treffender. Aber wahrscheinlich wollen Sie nur eine Art des Umgangs mit Schauspielen beschreiben, der schlicht und ergreifend zeitgemäß ist.

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