Neue Rubrik: René in Gefahr

Im Januar hatte ich ja das große Vergnügen, einem Kompaktkurs für Printvolontäre an der Akademie für Publizistik in Hamburg beizuwohnen. Unter anderem stand da auch ein Reportage-Seminar auf dem Programm, geleitet von Stefan Willeke, fleißigen Lesern der Süddeutschen Zeitung sicher ein Begriff. Zum Seminar gehörte auch die Anfertigung einer eigenen Reportage inklusive Recherche. Nachdem sich leider mein Wunschthema, einem "Interkulturellen Training" der amerikanischen Streitkräfte beizuwohnen, aus zeitlichen Gründen zerschlagen hatte, musste ich auf das Not-Thema "Soziales" ausweichen. Weil es mich etwas langweilte, das Thema Obdachlosigkeit zum tausendsten Male durchzukauen, entschloss ich mich zu folgendem Selbstversuch:

Die Furcht vor rumänischen Hunden

Von den Schwierigkeiten, einen Tag obdachlos zu sein

Im Wasser der Binnenalster schwimmt eine Bierflasche aus Kunststoff. Etwa drei Meter vom Ufer entfernt hebt und senkt sie sich gemächlich im leichten Wellengang uns stößt mit dem Hals gegen die dünne Eisdecke. Offenbar ist sie noch zum Teil gefüllt. Ich beobachte sie eine Weile. Das Eis wird mich nicht tragen, die Flasche bleibt unerreichbar. Also gehe ich weiter am Uferweg entlang Richtung Außenalster und durchsuche die Mülleimer. Vor einigen Minuten sind mir einige Männer in Anzügen und Krawatten entgegengekommen und haben darüber diskutiert, wo sie sich ihr Mittagessen besorgen sollen, ich dagegen habe nicht einmal ein Frühstück im Bauch. In meiner Tragetasche befindet sich eine einzige mickrige Bierflasche, die ich in der Nähe der U-Bahn-Station Rödingsmarkt gefunden habe. Der Tatendrang, mit dem ich am Morgen am Altonaer Bahnhof aus dem Zug gestiegen bin, hat sich verflüchtigt. Ein Experiment sollte es sein, 24 Stunden lang auf der Straße, ohne Geld, ohne Proviant, ohne Bleibe. Ich wollte mit anderen Obdachlosen sprechen, nicht als Journalist, sondern als Ihresgleichen. Abends sollte mich dann die Bahnhofsmission in eine Notunterkunft vermitteln. Das könnte, so die Idee, eine andere Ahnung von der Obdachlosigkeit vermitteln als eine reine Beobachtung von Betroffenen. Aber der Hunger hat über die Neugier gesiegt.
In Altona habe ich meine Tour begonnen. Ausgerüstet habe ich mich mit einem alten Rucksack, darin ein Taschenmesser, ein altes T-Shirt und Socken. Ich trage verschlissene Kleidung, die ich für mögliche Wohnungsrenovierungen aufbewahrt habe. Ich habe eine Lust an der Verkleidung gespürt, als ich in der Fußgängerzone die Mülleimer nach Pfandflaschen durchsucht habe. Das Starren der Passanten hat mich amüsiert. Von Altona über St. Pauli bis zur Alster bin ich gegangen. Nun bin ich unterzuckert und schlapp, am Vorabend habe ich zum letzten Mal etwas gegessen. Außerdem friere ich. Auch mein Gehirn hat auf Sparflamme geschaltet. Notizen über meine Wanderung habe ich mir zum letzten Mal gemacht, als ich mich in St. Pauli am Hans-Albers-Platz vor das Denkmal des Schauspielers gesetzt habe. Mit der Schwäche ist zudem ein Gefühl der Scham in mir aufgestiegen. Die Blicke der Menschen sind mir mittlerweile nicht mehr egal, ich blicke mich um, bevor ich im Müll wühle, und wenn jemand in der Nähe ist, lasse ich es sein. Meine Blase drückt, aber einfach an einem Baum meine Notdurft zu verrichten, wage ich auch nicht. Deshalb setze ich meinen Weg fort und komme zum Bahnhof Dammtor. Dort steige ich in einen Zug und gehe auf die Toilette. Auf dem Fußboden liegt eine Euromünze. Vielleicht war es dem Besitzer widerwärtig, die Münze aus der Pfütze zu holen. Ich wasche sie zusammen mit meinen Händen ab. Am Hauptbahnhof steige ich wieder aus. An einem Automaten auf dem Bahnsteig ziehe ich mir einen Becher heiße Tomatensuppe. Ich gehe weiter und suche Flaschen, obwohl dieses Unterfangen bislang so erfolglos war. Aber die Überwindung, stattdessen schnorren zu gehen, ist zu groß.

Als ich, ohne es geplant zu haben, wieder in Altona am Bahnhof stehe, ist es kurz vor vier. Unterwegs habe ich vier Plastikflaschen gefunden, für die ich Pfand kassieren kann. Ich tausche in einem Plus-Markt meine Flaschen gegen Doppelkekse und eine Flasche Wasser. Nur die Bierflasche, die ich zuerst gefunden habe, kann ich dort nicht umtauschen. In einer schäbigen Grünfläche setze ich mich und esse. Auf der Bank neben mir sitzt ein Mann, ungepflegt, dick eingepackt und mit einem großen Rucksack. Ich spreche ihn an. Er würdigt mich kaum eines Blickes und reagiert nur mit Brummen auf meine Fragen. Vielleicht ist er in eine Art Kältestarre verfallen, um Energie zu sparen. Trotzdem erzähle ich eine aus einem Magazin geklaute Geschichte, wie ich auf der Straße und nun in Hamburg gelandet bin. Der Gesichtsausdruck meines Banknachbarn lässt darauf schließen, dass ich ihm gewaltig auf die Nerven gehe. Ich stehe mit der Bemerkung auf, noch etwas schnorren zu gehen und mir dann einen Übernachtungsplatz in einer Notunterkunft zu suchen. Da wird er plötzlich lebendig. Er warnt mich vor den „diebischen rumänischen Hunden“, die dort auch immer übernachten würden. Ich habe von diesen Problemen gelesen. Osteuropäische Tagelöhner übernachten häufig in den Obdachlosenunterkünften, in denen es zudem oft zu Gewalt und Diebstählen kommt. Bei der Planung meines Experiments hatte ich mir dennoch vorgenommen, in einer solchen Einrichtung die Nacht zu verbringen. Aber Hunger und Kälte haben mir jeglichen Schneid abgekauft. Ich überlege nun ernsthaft, die Nacht im Freien zu verbringen, obwohl ich dafür nicht ausgerüstet bin.

Ich drücke mich auf dem Bahnhof herum und versuche, meine Hemmungen zu überwinden und zu betteln. Schließlich schaffe ich es, einige Leute anzuschnorren. Zwei davon geben mir tatsächlich etwas. Ein älterer Herr gibt mir 50 Cents, ein jüngerer leert seinen Geldbeutel aus und gibt mir einen Haufen Kleingeld, hauptsächlich Kupfermünzen. Ich versorge mich wieder an einem Automaten. Dann verlasse ich den Bahnhof. Mir ist schlecht vor Scham. Im Park am Platz der Republik denke ich an die kommende Nacht. Paranoia steigt in mir auf. Ich werde nicht in eine Unterkunft gehen, verberge den Beutel mit der Bierflasche unter der Jacke und schlafe auf der Bank ein. Als ich aufwache, kann ich mich vor Kälte kaum bewegen. Die Nacht hat noch nicht einmal angefangen. Von nun an schlafe ich im Sitzen auf der Bank, wache auf, bewege mich etwas, bis die schlimmste Kälte aus meinen Gliedern verschwunden ist und setze mich wieder. Irgendwann gehe ich zum Bahnhof und sehe, dass in einer halben Stunde ein Zug nach Hause fährt.
Auf der Fahrt frage ich mich, ob ich dem Lebensgefühl eines Obdachlosen wirklich näher gekommen bin. Es war wohl eher ein Selbsterfahrungstrip in Sachen Hunger.
Als ich aus dem Zug steige, zieht es mich unwillkürlich zum nächsten Mülleimer. Noch immer trage ich die Bierflasche mit mir herum. Ich werde angeschnorrt und gebe dem Mann meine letzten 23 Cent in Kupfer.

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